Sonntag, 24. Februar 2008

Wissen: "Die Pathologie des Normalen" (Neuro-Enhancement) (akt. 22.02.2008)

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 28.10.2007, Nr. 43, Seite 80, erschien ein Kurzbericht über einen Vortrag von Prof. Dr. med. Bettina Schöne-Seifert über soziale und psychologische Folgen des Euro-Enhancement (vgl. auch Medikamentation: Psychopharmaka und "life drugs", Stichwort: Vigil):

"Die Pathologie des Normalen - Emanzipatorisches Versprechen oder doch nur Tyrannei der Leistungsgesellschaft?
"Neuro-Enhancement" belebt den alten Traum von einer Optimierung des Menschen.


Von Ariane Breyer

In der Debatte um medikamentöse Leistungssteigerung im Profisport, die in jüngster Zeit von weiteren Enthüllungen noch einmal neuen Schwung erhalten hat, kommt ein besonders sensibler Aspekt unseres Moralbegriffs zum Tragen. Er schlägt sich als Empörung des düpierten Publikums nieder. Doping, so der Vorwurf, verschaffe dem Nutzer unlautere Wettbewerbsvorteile.

Das Unbehagen, das sich nicht zuletzt aus der Angst vor der eigenen Übervorteilung speist, wächst in dem Maße, in dem die biomedizinische Selbstverbesserung auch im Alltag Anwender findet. "Neuro-Enhancement" lautet die schnittige Formel für den außertherapeutischen Einsatz von pharmakologischen Mitteln, um die körperliche oder kognitive Leistung zu steigern. Wegen der gefühlten Unnatürlichkeit derartiger Eingriffe werden Ritalin, Prozac und andere Psychopharmaka oft skeptisch als Speerspitze einer absurden Medikalisierungstendenz betrachtet. Deren Ziel ist es nicht, Kranke gesund, sondern Gesunde noch gesünder zu machen.

Aber hat nicht das Augenmaß der Natur auf skandalöse Art versagt, als sie sich anschickte, Fähigkeiten und Handicaps gerecht unter den Menschen zu verteilen? So betrachtet, könnte im Neuro-Enhancement die Chance auf einen Ausgleich der natürlichen Ungleichbehandlung liegen.

In ihrem Vortrag, den Bettina Schöne-Seifert kürzlich an der RWTH Aachen hielt, untersuchte sie die moralischen Reflexe, die unseren Umgang mit dem Thema "Mind-Doping" strukturieren. Sie leitet das Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster. Mit dem Verweis auf das Kriterium der Unnatürlichkeit sei die Frage nach der ethischen Bewertung leistungssteigernder Maßnahmen nicht beantwortet, sagt die Professorin für Medizinethik. Krankheitsbehandlung sei, strenggenommen, per definitionem unnatürlich, denn immer greife sie in den biologischen Verlauf ein: "Die Möglichkeit eines Enhancements außerhalb der klassischen Krankenbehandlung ist daher nicht pauschal als moralisch heikel zu verwerfen."

Biomedizinische Intervention bei Gesunden beginne offensichtlich an der Grenze zwischen Behandlung und Enhancement. Diese Grenze hingegen sei so unscharf wie der Begriff der Krankheit selbst. Ein banales Beispiel, das die Komplexität dieses Problems umso besser illustriert, ist die Altersschwerhörigkeit; eine lästige, aber als normal akzeptierte Begleiterscheinung des Älterwerdens und deshalb nicht zwingend pathologisch. Nun aber leidet der in seinem Hörvermögen Eingeschränkte unter diesem Symptom - liegt jetzt eine Krankheit vor? Wie verhält es sich mit präventiven Maßnahmen, die einer beginnenden Reduktion des Gehörs entgegenwirken wollen? Enhancement oder Therapie?

Fluch und Segen des Enhancements ließen sich, meint Frau Schöne-Seifert, allein an der bislang uneingelösten Zielvorgabe ablesen: der selektiven Funktionsverbesserung ohne medizinische Kosten. Das freilich sei heute, da es keine nebenwirkungsfreien Enhancer gebe, Zukunftsmusik. Geforscht werde mit großer Intensität in diesem Bereich, bietet er der Pharmaindustrie doch die Möglichkeit, auch noch die Gesunden als Zielgruppe zu erschließen. Vorausgesetzt also, das Gedächtnis ließe sich völlig risikofrei stärken, die Aufmerksamkeit steigern, die Stimmung heben und die Methode fände Anklang: Wo müsste die medizinethische Evaluation der Chancen und Risiken einsetzen?

Auf sozialer Ebene sei das Szenario einer Wettbewerbsspirale denkbar, weil der Vorsprung, den sich der Einzelne im Wettbewerb verschafft, nivelliert wird, wenn alle dies tun. Sobald die Einnahme von Mitteln üblich wäre, um das Schlafbedürfnis herabzusetzen - etwa beim Militär oder im oberen Management -, könnte sie auch zu den impliziten Anforderungen des Marktes avancieren. Gleichzeitig würde diese Wettbewerbsspirale die soziale Ungerechtigkeit sogar verschärfen, indem die entsprechenden Medikamente nur den Wohlhabenden zugänglich sind. Oder will man Enhancer krankenkassenfähig machen und damit ein minimales Schlafbedürfnis zum Primärgut?

Das mit steigendem sozialen Druck eng verbundene individualethische Problem betrifft die Frage der menschlichen Autonomie. Die ist dann gefährdet, wenn die Einnahme entgegen der eigenen Überzeugung, aber auf Grund gesellschaftlicher Zwänge akzeptiert wird. Zudem wäre zu überlegen, sagt die Wissenschaftlerin, inwieweit Neuro-Enhancement einen Authentizitätsverlust nach sich ziehe. Verleugnet nicht jeder, der ohne medizinische Indikation Antidepressiva schluckt, um sich "besser als gut" zu fühlen, seinen "natürlichen" Charakter? Wiegt die Treue zum Ich nicht schwerer als das individuelle Befinden? Bettina Schöne-Seifert sieht hinter der ohnehin komplexen ethischen Frage ein ungleich schwierigeres anthropologisches Problem: Was braucht der Mensch eigentlich, um ein gelingendes und glückliches Leben zu führen?"

Literaturhinweis: Bettina Schöne-Seifert, "Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit". In: no body is perfect. Hg. J.S. Ach, A. Pollmann. Bielefeld 2006.

Copyright: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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